Autor: Max Kampenhuber
Wenn das Ziel auf einem Powerlifting-Wettkampf ist, das höchstmögliche Total zu erreichen, sollte man als Athlet:in versuchen, möglichst viele Versuche gültig zu bekommen. IPF Weltmeister:innen schaffen im Durchschnitt ~7,5 von 9 Versuchen. Natürlich hat nicht jede:r das Ziel, eine Weltmeisterschaft zu gewinnen, allerdings zeigt es, dass die Chancen auf das höchste Total selbst auf dem allerhöchsten Niveau höher stehen, wenn man mehr Versuche in die Wertung bringt. Weniger erfolgreiche Versuche = Total, das auf der Strecke bleibt. Ganz einfach. Deswegen möchte ich in diesem Blogbeitrag ungefähre Vorgaben darbieten, an die man sich halten kann, um das höchstmögliche Total am Wettkampftag zu erreichen.
Hier der Disclaimer, dass es bei diesem Blogbeitrag nicht um Gameday-Strategien wie Versuchsänderungen, Taktiken anhand von Losnummern, Körpergewicht usw. gehen soll. Wen das interessiert, kann ich das Gameday Coaching Manual von Matt Gary (https://www.supremesportspt.com/gameday-coaching-manual ) nur wärmstens empfehlen!
Gameplan
Im Vorhinein sollte man durch Daten aus dem Training in der Lage sein, eine ungefähre Zahl für den 3. Versuch zu haben, die man schaffen möchte und die man nutzen kann, um einen Gameplan für die 9 Versuche zu entwerfen. Im Normalfall hat man in den letzten Wochen vor dem Wettkampf mehrere einigermaßen schwere Singles gemacht, von denen man ableiten kann, wie viele Kilos noch im Tank waren. Wenn ihr noch nicht so erfahren in Wettkämpfen seid, würde ich euch empfehlen, eine konservativere Zahl zu wählen, als vielleicht in einem sehr guten Training möglich ist. Auf einem Wettkampf gibt es zahlreiche Stressoren: man muss zu einem bestimmten Zeitpunkt performen und kann seine Umgebung weniger beeinflussen als im eigenen Training. Hier bietet es sich an, sich auf mehrere Szenarien vorzubereiten und in irgendeiner Form beim Wettkampf mitzunehmen. Diese können zum Beispiel so sein:
Variante A: alles läuft nach Plan
Variante B: ich fühle mich etwas schwächer als geplant
Variante C: ich bin stärker als gedacht
Mit den im Blog später angegebenen Prozentsätzen kann man also einen Plan für die 3 verschiedenen Szenarien erstellen, um auf alles vorbereitet zu sein und keine hektischen Entscheidungen am Wettkampf selber machen zu müssen.
Opener
Der erste Versuch, oder Opener, hat mehrere Zwecke. Zum einen möchte man einen gültigen Versuch in der Wertung haben, um sicherzustellen, dass man nicht aus dem Wettkampf fliegt (auf gut Österreichisch: ein Radl machen). Dieser sollte möglichst leicht sein, um Kraft für die nächsten Versuche zu sparen. Zu leicht sollte er aber auch nicht sein. Zur Veranschaulichung: Jemand hat das Ziel, 200kg im dritten Versuch zu bewegen. Wenn man nur unter dem Aspekt handelt, dass man einen leichten Versuch, den man sicher gültig schafft, im Erstversuch wählt, könnte man ja einfach nur z.B. 150 kg im Opener wählen? Der wäre dann zwar sicher leicht, jedoch hat man absolut keine Einschätzung, wie es um die eigene Kraft steht an dem Tag. Also sollte er dennoch auch schwer genug sein, um einschätzen zu können, wo die Reise bis zum dritten Versuch hingeht und um keinen zu großen Sprung machen zu müssen, zum nächsten Versuch. Also: ein Erstversuch soll also so leicht sein, dass man ihn sicher gültig schafft, aber schwer genug, um einschätzen zu können, was man im Zweitversuch angeben soll.
In der Praxis ergeben diese Vorgaben bei den meisten Lifter:innen 90-92% (entspricht in etwa einem Triple zu RPE 10). Das würde bei einem 200 kg-Max also 180 bis185 kg ergeben, bei einem 75 kg-Max 67,5 bis70 kg.
Welchen Wert dieser Spanne man dann am Schluss des Tages wählt, hängt von mehreren Faktoren ab. Zum Beispiel können gerade beim conventional Kreuzheben viele Athlet:innen niedriger einsteigen, da dieser Lift weniger technikabhängig ist, am Schluss des Wettkampfes ist, wo die Ermüdung schon höher ist und man sich deswegen oft die Kraft für den dritten Versuch bestmöglich aufsparen möchte und weil viele Leute oft das Gefühl haben, dass durch die hohe Belastung der Rückenstrecker schneller “die Luft draußen ist”, wenn die Versuche davor zu schwer waren. Diesen Effekt sieht man weniger beim Bankdrücken oder Kniebeugen. Neben übungsabhängigen Faktoren spielt auch die eigene Wettkampf-Erfahrung eine Rolle. In den ersten Wettkämpfen einer Powerliftingkarriere macht es oft Sinn, etwas leichter einzusteigen, um die oft hohe Nervosität vor dem Lift etwas zu senken und Selbstbewusstsein für kommende Versuche zu steigern.
Nach einem harten Watercut kann es auch Sinn machen, den Kniebeuge-Opener etwas niedriger zu halten und dann einen höheren Sprung zum zweiten Versuch zu wählen, um noch einmal ein paar extra Minuten zu bekommen, um die schnelle Rehydration nach der Waage “ankommen zu lassen”.
Zweitversuch
Hat man nun den Opener gültig geschafft, ist es an der Zeit, den nächsten Versuch abzugeben. Der zweite Versuch sollte schwer genug sein, um noch besser abschätzen zu können, was man im dritten Versuch schaffen kann, aber immer noch leicht genug, um Kraftreserven dafür zu sparen. Anhand des Openers sollte man bereits ein ungefähres Gefühl haben, wie es um die eigene Kraft an dem Tag steht. Das kann man entweder durch das eigene Gefühl, Hantelgeschwindigkeit auf einem Video oder durch das erfahrene Auge eines Coaches abschätzen.
In der Praxis bietet sich hier ein Bereich von 95 bis 97% der Maximalkraft an. Um wieder unsere Beispiele zu nutzen, wären das bei unserem 200 kg-Max 190 bis 195 kg (also ein Sprung vom Opener von 5 bis 15kg). Bei einem 75 kg-Max kommt man auf eine Spanne von ~70 bis 72,5 (also ein Sprung von 2,5 bis 5kg).
Man sieht anhand der Sprünge in den Beispielen schon, dass man also bei einer geringeren absoluten Last kleinere Sprünge zwischen den Versuchen machen sollte. Viel zu oft sieht man unerfahrene Lifter:innen, die zu hohe Sprünge machen, weil sie glauben, sie würden sonst zu viel Kraft verlieren. Nicht selten sieht man dann zum Beispiel auf der Bank einen Opener, der noch sehr leicht ist, dann wird um 5 oder 7,5 kg gesprungen und die Hantel bewegt sich keinen Millimeter mehr nach oben. Bei einem 50 kg-Max entsprechen 5kg 10% und können den Unterschied zwischen fünf möglichen Wiederholungen und einem Fail ausmachen.
Drittversuch
Nun steht also der letzte Versuch der Disziplin an, wir wollen VUI DRAUF gehen. Nach dem zweiten Versuch sollte man sich, wie auch nach dem Opener, die Frage stellen, was noch im Tank ist. Der Prozentsatz für den dritten Versuch beträgt demnach 97 bis 100%. Meine Empfehlung ist immer, den Sprung vom zweiten auf den dritten Versuch kleiner oder maximal gleich zu lassen, wie vom Opener auf den Zweitversuch. Hier können sonst schnell 2,5kg zu viel werden!
Welche Zahl man dann am Schluss aufschreibt, hängt von mehreren Faktoren ab:
- Wie viel Kraft ist noch im Tank?
- Kann ich eine persönliche Bestleistung aufstellen oder einen Meilenstein mit meinem dritten Versuch?
- Kann ich mit meinem dritten Deadlift etwas an der Platzierung ändern?
Je nachdem wie die eigene Zielsetzung ist, können also verschiedene Szenarien entstehen. Meilensteine oder Platzierungen können schnell zu einem höheren Risiko führen, als rein nach Erfahrung und Gefühl abzuschätzen, wie viel noch drinnen ist. Meilensteine können toll sein und natürlich haben wir alle bei einer oder allen Übungen eine Zahl im Kopf, die wir kurz- oder langfristig erreichen wollen. Meiner Meinung nach spricht nichts dagegen, etwas Risiko einzugehen, wenn man das Gefühl hat, heute könnte der Tag sein. Ich sehe aber auch viel zu oft Lifter:innen auf Wettkämpfen, die diese eine Zahl dann trotzdem aufschreiben, obwohl durch den 2. Versuch schon klar war, dass heute nicht der Tag dafür ist. Das kann, wenn es sich ständig wiederholt, zu sehr viel liegen gebliebenem Total auf Dauer führen! Ich würde hier im Zweifel immer die niedrigere Nummer aufschreiben, wenn man das Risiko als zu hoch einschätzt.
Ungültige Versuche
Im Falle eines ungültigen Openers, würde ich bei den meisten Personen, die den Sport noch nicht ein paar Jahre machen, immer dazu tendieren, das Gewicht des Erstversuchs zu wiederholen, um sicherzugehen, dass das Gewicht leicht genug ist und man sicher im Wettkampf bleibt. Dies gilt vor allem für die Tiefe beim Kniebeugen oder Bankdrücken. Falls der/die Lifter:in wegen einer Unaufmerksamkeit z.B. beim Beugen das “Rack” Signal übersprungen hat und sich ganz sicher ist, dass er/sie das beim nächsten Versuch richtig macht, kann man hier auch auf den geplanten nächsten Versuch gehen.
Da es ganz viele Szenarien für verschiedene Lifter:innen hier gebn kann, kann man nie zu 100% sagen, was in welcher Situation objektiv richtig gewesen wäre im Nachhinein. Hier bietet es sich an, alle möglichen Szenarien bei jedem Lift durchzugehen und sich im Vorhinein zu überlegen, wie man handelt, sollte dieses Szenario eintreffen, um auch hier wieder weiteren Stress im Wettkampf zu vermeiden. Eine Option kann auch sein, einen kleineren Sprung als geplant zum nächsten Versuch hochzugehen, sollte man einen Versuch ungültig bekommen haben. Dies bietet sich vor allem vor Drittversuchen an, um nicht zu viel Total liegen zu lassen. Das ist selbstverständlich aber mit einem gewissen Risiko verbunden und sollte immer abgewogen werden.
Abschlussworte
Natürlich ist nichts von den Zahlen oder Empfehlungen, die ich hier gegeben habe, in Stein gemeißelt. Im Wettkampfsport kann es so viele Faktoren und Einflüsse geben, durch die man nie eine 100% richtige objektive Entscheidung treffen kann. Überlegt euch im Vorhinein, zu wie viel Risiko ihr bereit seid im Wettkampf, sollten gewisse Szenarien eintreten und handelt dann bestmöglich danach. Danach kann man das ganze auswerten und sich überlegen, was man beim nächsten Wettkampf besser machen kann.